Totenruhe und Ungeduld
Seit dem Tod des Regisseurs und Dramatikers René Pollesch am 26. Februar klafft eine riesige Lücke. Für die Volksbühne, an der Pollesch von 2021 bis zu seinem Tod als Indendant tätig war, stellt sich inzwischen die Frage, wie es weitergeht: personell, aber auch programmatisch. Die Berliner Morgenpost gab mir im Rahmen einer kleinen Diskussionsserie die Gelegenheit, einige meiner Gedanken zum Thema zu teilen.
Es ist nicht nur eine Frage des politischen Anstandes, nach dem schmerzlichen Verlust eines wunderbaren Menschen und Intendanten, wie René Pollesch einer war, mit dem Übergang zur Tagesordnung zu warten. Innehalten ist nicht gleichbedeutend mit Stillstand. Zugleich ist klar: Die politische Realität und die mediale Gegenwart setzen immer Zeitdruck. Es hat nicht lange gedauert, bis die ersten Fragen kamen, wer es denn nun und nach Pollesch sein wird. Bis die ersten Namen geraunt, die ersten Spekulationen angestellt wurden. Sätze wie „Das Haus mit der großen Geschichte ist ein Sanierungsfall. Das Einzige, was sie noch retten kann, ist ein harter, möglichst unsentimentaler Schnitt.“ wurden geschrieben und gedruckt.
Wie immer in diesen Zeiten, ging und geht alles sehr schnell. Abträglich genau diesem – aus meiner Sicht notwendigen – Innehalten, das zugleich auch eine postume Wertschätzung ist, die René Pollesch gebührt, wie er sie zu Leb- und Arbeitszeiten mit dem was er tat und wie er es getan hat, verdient hatte. Der Schauspieler Fabian Hinrichs schrieb am 28. Februar in einem Nachruf über den Regisseur, Autor und Freund: „Auch Ihnen, die nie oder nur manchmal ins Theater gehen, wird er fehlen. Sehr. Ohne, dass Sie es merken. Mir wird er unendlich fehlen. Unendlich. Jeden einzelnen beschissenen Tag.“
So zu trauern und innezuhalten, das können sich, mögen viele denken, jene gönnen und leisten, die mit ihm gearbeitet haben, mit ihm befreundet waren, mit ihm gelebt haben. Die Politik aber braucht Tagesordnungen und muss ins Tun kommen. Das ist ihre Pflicht und das erwarten wir von ihr. Also: Wer wird es denn nun?
Diesen Widerspruch auszuhalten und aufzulösen ist nicht einfach. Und genauso schwierig wird sein, den Such- und Findungsprozess mit so viel Transparenz und Beteiligung wie möglich zu gestalten, ohne daraus ein für das Haus Volksbühne und all die Menschen, die es künstlerisch ausmachen und tragen, kontraproduktives Bühnenspektakel zu machen. Die Politik, namentlich der Kultursenator, steht in der Pflicht – wohl wahr. Das ermächtigt sie zwar, Bestimmerin zu sein, aber es entlarvte sie auch, bediente sie sich der Möglichkeit dieser Ermächtigung im Stile eines Alleingangs. Das gab es schon einmal, als in selbstherrlicher Allüre ein Intendant geholt wurde, der scheitern musste und mit großem Schaden für die Volksbühne und auch für sich persönlich gescheitert ist. Damals hat sich die Politik ihrer Verantwortung entzogen, indem sie auf Befehlsgewalt verwies und sich weigerte, zuzuhören und mitreden zu lassen. Im Nachhinein muss man sagen: Das einzig Gute an dieser schmerzlichen Erfahrung ist, dass sie wahrscheinlich eine Neuauflage solcherart Vorgehens verhindert.
Es braucht, das klingt wie eine Binsenweisheit, ist es aber nicht, einen gut, sorgfältig und breit angelegten Such- und Findungsprozess. Viele Akteurinnen und Akteure müssen gehört UND ernstgenommen werden. Mitgenommen sowieso. Erst am Ende können die politisch Verantwortlichen in der Brunnenstraße eine Entscheidung treffen. Insofern ist – trotz manch drängender und gegenteiliger Stimmen – eine Interimslösung in Gestalt einer Interims-Intendanz, die das Haus kommissarisch führt und das möglicherweise für ein oder gar zwei Spielzeiten, eine gute Lösung. Niemand sollte Interim mit Notnagel verwechseln. Denn es braucht dafür jemanden, die oder der das Haus kennt, seiner Kraft vertraut, mit den Menschen, die dort sind, arbeiten und sich die Freiheit nehmen kann und will, einem Neuanfang Platz zu machen, wann immer der dann beginnen wird.
Das Interessante und zugleich Schwere an und in diesem Prozess ist, dass es hier eben nicht nur darum geht, zum Schluss einen Namen zu verkünden. Stattdessen geht es um die Suche nach einem Profil der Volksbühne, die vor knapp 110 Jahren eröffnet wurde, in der heutigen Theaterlandschaft. Das meint nicht nur Berlin, weil die Möglichkeiten dieses Theaters weitaus größer sind, als in Berlin weltberühmt zu sein. Das hat es unter Beweis gestellt.
Die Volksbühne hat in der Nachwendezeit einen unschätzbar großen Beitrag zur Ost-West-Transformation geleistet. Sie war ein Kulturhaus im provokanten und guten Sinn. Die Soziologin Tanja Bogusz schrieb in ihrem Text „Institution und Utopie. Ost-West-Transformationen an der Berliner Volksbühne“ (2008 im „Theater der Zeit“ erschienen): „In keinem anderen gesellschaftlichen Bereich konnten die kulturellen Anomien aus Ost und West nach dem Mauerfall so wirkungsvoll institutionalisiert werden und ihre utopistischen Möglichkeitsräume auf Dauer stellen wie in dem Theater am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz.“
Es bedarf eines Theaters, das utopistische Möglichkeitsräume über die Landesgrenzen hinaus und mit Blick in alle Himmelsrichtungen auf die Bühne bringt. Und ein solches Theater braucht eine Intendanz, die integrativ und polarisierend zugleich ist. So jemanden zu finden und dann auch noch zu überzeugen, den Job anzunehmen, ist schwer. Hinter hermetisch verschlossenen Türen nicht erfolgreich zu schaffen und ohne Beratungs- und Diskussionsoffenheit wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt.
Schaut man sich die lange Liste der bisherigen künstlerischen Leitungen an, fällt eines auf: In den 110 Jahren Geschichte gab es genau zwei Jahre, in denen Frauen das Theater leiteten oder mitleiteten. Das war die Jahre 1990 bis 1992 – gekennzeichnet durch Aufbruch und Verlust, Zusammenbruch und Neuanfang. Krise also mit all ihren produktiven und destruktiven Potenzialen. Die Gegenwart verträgt eine ähnliche Beschreibung. Auch das sollte zu denken geben. Und tut es das, braucht es vielleicht noch mehr Zeit bis zu einer Nach-Interimslösung.
Dem Intendanten Matthias Lilienthal wird der Satz zugeschrieben: „Die Volksbühne ist längst schon die Zukunft“. Die Politik hat gegenwärtig die Aufgabe, diesen Satz wahr bleiben zu lassen, indem sie ihrer Verantwortung gerecht wird, ohne übergriffig zu sein, und eine Lösung findet, mit der nicht nur viele werden leben können, sondern alle werden arbeiten, streiten und für Aufregung sorgen wollen. Denn das ist die Aufgabe eines guten Theaters. Es muss aufregen.